Der Besuch

Chlodwig Grünelinde war nicht wenig überrascht, als sein Gast, ein alter Freund aus Studientagen, eines frühen Abends begann, die Möbel von seinem Balkon im vierten Stock hinunter auf die Straße zu werfen. Anschließend pinkelte dieser in den Rosmarin.

„Hans-Herbert! Was tust du da? Der Grill hat 289 Euro gekostet!“

Chlodwig sah hinunter auf den parkenden BMW, aus dessen poliertem schwarzem Dach nun sein neuer Gasgrill ragte.

„Hast du es getan oder nicht?“ fragte Hans-Herbert im Crescendo. „JA ODER NEIN?“

„Wovon redest du?“

„Hast du mit ihr geschlafen?“

„Mit Irmtraud?“

„Nein.“

„Mit Maria Clara?“

„Nein.“

„Mit wem denn dann?“

„Mit Heidelore.“

„Mit Heidelore – ja, da muss etwas gewesen sein.“ sprach Chlodwig langsam und nachdenklich.

„JA ODER NEIN?“

„Vermutlich ja.“

„Vermutlich? So etwas weiß man!“

„Gut, dann wohl ja. Nicht! Der Zigarrenaschenbecher ist aus Kristall!“

Auch dieser zerschellte auf der Straße in tausend Scherben, nur knapp einen jungen Mann mit einem Blumenstrauß verfehlend.

„Mit Heidelore – wie konntest du nur? Hast du denn überhaupt keine Grundsätze, keine Prinzipien?“

„Nur in manchen Dingen. Sie machen das Leben oft unnötig kompliziert.“

„Wie ist das denn passiert?“

„Nun, wie solche Dinge eben geschehen. Sie war da, und ich war da. Ich habe eine Flasche Champagner aufgemacht – und eines führte zum anderen.“

„Ich finde dein Verhalten beispiellos.“

„So etwas passiert, wenn zwei hübsche junge Menschen, die einander gefallen, allein in einem Zimmer sind.“

„Junge Menschen! Der Altersunterschied hat dich nicht gestört?“

„Was wird der sein – fünfundzwanzig Jahre? Sie hat sich sehr gut gehalten. Sie ist noch eine durchaus attraktive Frau.“

Chlodwig zuckte zusammen, weil Hans-Herbert ihn fast geschlagen hätte.

„Hast du denn keinen Respekt im Leibe? Du hättest doch auf mich Rücksicht nehmen können!“

„Wir sind doch erwachsene Menschen. Ich muss zugeben: An dich habe ich in dem Moment, in der Hitze des Augenblicks, leider überhaupt nicht gedacht.“

„Wenn ich mir vorstelle, wie sie dich streichelt, dich Chlo-Chlo nennt, dir vielleicht sogar – nein, das will ich mir gar nicht ausmalen.“

Der Angesprochene schwieg, eher amüsiert als betroffen.

„Wir sind geschiedene Leute, Chlodwig. Das muss dir klar sein.“

„Warum nimmst du dir das alles so sehr zu Herzen? Sie war sich von vorneherein bewusst, dass es nicht für die Ewigkeit sein würde. Das haben wir vorher schon abgesprochen. Sie wusste, worauf sie sich einlässt.“

Hans-Herbert schüttelte nur den Kopf und sah zu Boden. Er fuhr sich mit beiden Händen immer wieder übers Gesicht, als würde er es waschen.

„Eines steht fest.“

„Dass du mir meine Balkonmöbel ersetzt?“

Hans-Herbert lachte auf. „Nein. Meine Mutter siehst du nie, nie mehr.“

©Max Haberich

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