Ich gehe immer wieder ins Konzert, denn ich bin ein kultivierter Mensch, und das sollen die anderen ruhig wissen. Ich gehöre auch zu denen, die während der Musik die Augen schließen, weil das einen gebildeteren Eindruck macht. So, als hätte man zu dieser Kunst einen ganz besonderen Zugang, von dem die restlichen Zuhörer keine Ahnung haben.
Heute bin ich bei den Wiener Philharmonikern. Wissen Sie, wie schwer es ist, Karten für die Philharmoniker zu bekommen? Es ist zwar nur ein Stehplatz, aber wenigstens bin ich reingekommen. Ein Freund von mir ist nämlich Platzanweiser im Musikverein.
Ich bin natürlich zu spät gekommen, weil ich meine Karte vergessen habe, was mir aber erst am Schottentor aufgefallen war, so dass ich mit der Tram nochmal bis nach Hause fahren musste. Und dann, im Saal, die dichtgedrängte Meute ganz hinten, in dem heißen, verschwitzten, nach ungewaschenen Touristen stinkenden Bereich, dieser säuerliche Geruch, den die zwei alterslahmen Ventilatoren an der Decke höchstens gut verteilen können. Hab’ mich irgendwie in die Mitte laviert, wo der Schweiß zwar in Mengen irgendwo zwischen Rio Grande und Niagara lief, aber die Sicht wenigstens, zwischen zwei Säulen hindurch, frontal aufs Orchester geht. Dachte ich zumindest, denn zwischen diesen beiden Säulen steht ein schmales Gerüst, genau auf Augenhöhe, auf dem der ORF bei Filmaufzeichnungen wahrscheinlich die Videokamera montiert. Wäre sicher auch viel zu umständlich, das Ding jedesmal ab- und wieder aufzubauen.
Diesen Abend wird jedenfalls nicht gefilmt. Zumindest nicht vom ORF. Rechts von mir steht ein Chinese mittleren Alters, der das Konzert – es hat übrigens schon begonnen; was wir hören, muss ich noch nachschauen – ziemlich dreist mitschneidet. Links vorne steht eine junge Familie gleicher Herkunft. Der Vater hebt seinen Balg auf die Schultern, zur Verzweiflung der hinter ihm Stehenden. Doch sie sagen nichts und machen nur Gesten, als wollten sie das Kind herunterschlagen. Rechts hinter mir macht das Handy eines freundlich wirkenden Asiaten merkwürdige Bestätigungsgeräusche. Ich sehe ihn böse an, er reagiert durch entschlossenes Nach-vorne-Schauen.
Der zweite Satz ist verklungen – Dvoraks achte Symphonie, wie ich rausgefunden habe – und der Aufnahmeleiter hat seinen ganzen Handy-Speicherplatz aufgebraucht. Er macht eine militärische Geste, worauf sich die ganze fernöstliche Touristenschar in Bewegung setzt. Dadurch werden die ersten beiden Reihen frei. Es gibt erbitterte Kämpfe um die besten Plätze, in aller Stille, versteht sich.
Ist es die brachiale Hitze, oder sieht die attraktive blonde Klarinettistin – attraktiv, soweit ich das über diese Entfernung hinweg beurteilen kann – direkt zu mir her? Ich glaube schon! Sie zwinkert oder blinzelt immer wieder, beugt sich nach vorne, macht einen Kussmund. Ganz schön anzüglich. Vielleicht kann sie auch einfach die Noten nicht lesen. Wenn ich mit ihr zusammenkäme, wäre es sicher leichter, ein Abo für die Philharmoniker zu bekommen. Da es aber sehr schwierig ist, quer durch den Saal ihre Handynummer oder auch nur ihren Namen zu erfahren, verwerfe ich diese kurze Romanze schon wieder.
Die hervorragende Akustik des Goldenen Saals ist zweifellos auch auf die Karyatiden zurückzuführen, die rechts und links in einer Reihe die Balkone auf den Köpfen tragen. Ihre vergoldeten, fast unnatürlich prall hervorstehenden Brüste beeindrucken mich jedesmal aufs neue, und helfen bestimmt, den Schall besser zurückzuwerfen.
Es ist Pause. Ein Herr, der sich mit der linken Hand das Gesäß hält, geht die Treppe hinab. Ein anderer älterer Herr kommt mit Krücken nur sehr mühsam die Treppen hinauf, und scheint anzunehmen, der noch anhaltende Applaus gelte seinen Anstrengungen, denn er blickt uns immer wieder fröhlich grinsend an. Wir klatschen aber nicht für Sie, mein Herr.
Die Altersverteilung im Parkett ist übrigens interessant: Rechts sind aus irgendwelchen Gründen deutlich mehr Weißkopfadler als links. Vielleicht ist die Luft dort besser. Mir fällt ein weiterer Mann auf, der mit anderen Besuchern hinter dem Orchester an exponierter Stelle sitzt, und deshalb auch ein türkisfarbenes T-Shirt sowie lachsfarbene Shorts trägt. Die Bänder seiner Skaterschuhe sind ebenfalls in passendem schottischem Wildlachsrosa gehalten. Rechts vor mir spielt eine Dame auf dem Rücken ihres Freundes Klavier. Gerade, als ich gehen will, rammt der Typ vor mir sein Gesäß in meinen Schritt, weil er ein Foto vom Balkon aus origineller Perspektive aufnehmen will. Er dreht sich nicht um, entschuldigt sich auch nicht – ich war ja im Weg.
Die Eine rechts vor mir spielt immer noch, scheinbar in einer Improvisation verloren, auf dem Rücken ihres Freundes Klavier. Es beginnt, mich zu irritieren.
Erst nach der Pause geschieht der Unfall. Die Bleiber sind bis ans Geländer vorgerückt. Mit den Luftschnappern gibt es, als sie zurückkamen, teils heftige Szenen. So hat eine betagte Dame ihren Seidenschal um das Geländer gewickelt, um sich ihren Stehplatz zu sichern. Doch inzwischen besetzte ein spanisches Touristenpärchen diese Position und ist nicht bereit, ihn trotz energischer Proteste der alten Frau wieder freizugeben.
„No reservation!“, ist alles, was sie immer wieder hervorbrachten.
Die kleinere Dame, sie mag schon über siebzig sein, kommt aber zurück, und ein regelrechtes Gerangel entsteht. Trotz ihrer Zierlichkeit verfügt sie noch über eine verbissene, störrische Kraft, die sie für solche Situationen aufhebt. Jetzt versucht sie, das Pärchen mit Gewalt und unter Beteuerungen, dass sie schon seit Jahrzehnten in die Galerie komme und ihr so etwas noch nie passiert sei, von ihrem Vorpausenplatz wegzuzerren. Doch die jungen Leute kämpfen zurück, und das Mädel sagt noch ein paarmal: „No reservation.“
Schließlich gibt sich die langjährige Stehplatzinhaberin geschlagen und verlässt den Saal. Einige amerikanische Touristen lachen über sie; und das amerikanische Gesindel tauscht mit dem spanischen Gesindel lachende Blicke, wie um zu sagen: „Was für eine alte Spinnerin!“
Der Dirigent kam zurück, brausender Applaus, die Musik setzte ein. Eine Nachbarin fing an, WhatsApp-Nachrichten zu schreiben. Ich wusste schon wieder nicht, was gespielt wurde, und wollte nachsehen, als mit dem Klang eines mächtigen Akkords, wie koordiniert, ein jüngerer Mann neben mir umfiel. Er war alleine hier, niemand hatte ihn bisher beachtet. Fiel einfach um und blieb liegen.
Mich ärgerte das, denn ich stand nun ziemlich weit vorne und wollte meinen neuen Platz nicht sofort wieder aufgeben. Anscheinend dachten viele so, denn es blieb erstaunlich still. Kein Tumult, keine Rettungsaktionen. Wir waren ja schließlich auch gekommen, um Musik zu hören. Und die Musik war sehr schön. Die Wiener Philharmoniker sind schließlich ein Orchester von Weltrang. Sie haben einen ganz besonderen Klang, reiner als andere Orchester. Und, wie schon erwähnt, ist es sehr schwer, an Karten zu kommen.
Ich sah zu meinem Nachbarn zur Linken. Der sah äußerst konzentriert geradeaus und stellte sich nun auch noch über das rechte Bein des Gefallenen, um besser sehen zu können. Der Mann hinter ihm ließ Blickkontakt zwar zu, hob aber die Augenbrauen und sah sofort wieder weg, als hätte ich ihn im Genuss der Musik gestört. Die Hitze machte wohl alle ein wenig träge. Man steht auch so dicht, dass die Leute zwei Reihen hinter uns möglicherweise gar nichts davon mitbekommen hatten.
Man muss viel mit Stand- und Spielbein arbeiten auf diesen Stehplätzen. Ein wenig umständlich war es jetzt, dass man immer darauf achten musste, dem auf dem Boden liegenden Herrn nicht versehentlich auf den Bauch oder anderswo hinzutreten.
Erst nach dem kompletten Durchlauf von Richard Strauss’ Tod und Verklärung op. 24, ein Werk, das, je nach Dirigent, bis zu dreißig Minuten dauern kann, kamen Sanitäter und trugen ihn hinaus, unter dem Zischen mancher Zuschauer, die sie dafür beiseiteschieben mussten. Draußen legten sie ihn auf eine Trage.
Als das Konzert vorbei war und wir uns alle gut gekleidet, aber rempelnd und drängelnd, wie ein zäher, schlammiger Strom dem Ausgang zubewegten, konnte ich noch einen Blick auf die Rettungskräfte erhaschen, welche den toten Mann aus dem Saal trugen. Dieser Abend war ohne jeden Zweifel einer der musikalischen Höhepunkte des Jahres.
Foto: Palast der Winde, Jaipur (Indien) © Max Haberich
22.6.2017